Das Projekt

“Ursprünglich wurde Kunst von einer Minderheit für eine Minderheit gemacht. Dann wurde es zur Kunst einer Minderheit für die Mehrheit, und jetzt stehen wir am Anfang eines neuen Zeitalters, in dem Kunst das Vorhaben einer Mehrheit für die Mehrheit ist.”
José Antonio Abreu

In Venezuela hat man es auf beeindruckende Art und Weise geschafft, die klassische Musik aus dem Elfenbeinturm der Hochkultur mitten hinein in die soziale Wirklichkeit zu tragen. Entstanden ist ein unglaubliches Sozialprojekt, welches mittlerweile die gesamte venezolanische Gesellschaft erfasst hat. Über 300.000 Kinder und Jugendliche spielen derzeit ein Instrument, und es sollen weitere hinzu kommen. Eine erstaunliche Entwicklung, die zunächst auf eine Person zurückzuführen ist: José Antonio Abreu.

José Antonio Abreu ist Dirigent, Komponist und Wirtschaftswissenschaftler und entwickelte vor 30 Jahren die Idee, soziale Arbeit und klassische Musik miteinander zu verbinden, um Kindern aus den Armenvierteln eine Alternative zum Leben auf der Straße zu bieten. Mehr als fünf Millionen Menschen leben in den Barrios in Caracas, die Hälfte davon sind Kinder. Die illegalen Vorstadtsiedlungen prägen das Stadtbild von Caracas: hinter Glaspalästen und Banken schlängeln sich die roten Backstein- und Bretterbuden die Hänge hinauf. Der Alltag ist von Gewalt auf der Straße, korrupten Polizisten und Bandenkriegen geprägt. Nur wenige finden einen Weg aus diesen Verhältnissen: selbst mit Berufsausbildung ist Arbeit selten zu finden, Aufnahmeprüfungen an den Universitäten sind mit den Abschlüssen von staatlichen Schulen kaum zu schaffen. Die Barrios sind von Armut, sozialer Ausgrenzung und Chancenlosigkeit geprägt.

José Antonio Abreu wollte diesen Kreislauf der Armut durchbrechen und gründete 1975 in Caracas das erste venezolanische Kinderorchester mit 12 Kindern aus den Barrios. Seither hat er im ganzen Land ein Netzwerk von Orchestern und Musikzentren aufgebaut, in denen überall auf dieselbe einmalige Art und Weise unterrichtet wird. Gefragt ist bei dieser Musikausbildung nicht die Perfektion auf dem Instrument, sondern – vom ersten Tag an – die Fähigkeit des Zusammenspiels. Die Kinder werden von Anfang an in Orchester integriert, wo zunächst die älteren Kinder ihr Wissen an die Jüngeren weitergeben. Hinter diesem einfachen Konzept verbirgt sich Abreus Intention und Philosophie: Für ihn ist ein Orchester in erster Linie eine Gemeinschaft, in der die Kinder lernen, aufeinander zu hören und einander zu respektieren. Der Sinn der Arbeit ist somit die Integration der Kinder in ein soziales Gefüge, in dem jeder Einzelne Verantwortung übernimmt und zu einem gemeinsamen Ergebnis beiträgt.

Abreu hat seine Vision kontinuierlich über drei Jahrzehnte – unabhängig von den verschiedenen politischen Systemen – geschickt ausbauen können. Aus den Kinderorchestern wurden Jugendorchester, und aus den Musikzentren entwickelten sich Hochschulen, in denen hochbegabte Musiker studieren. Gegenwärtig gibt es in Venezuela insgesamt 270 Musikzentren, die so genannten „nucléos“, die meist am Fuße eines Barrios gelegen sind. Es existieren Musikgruppen für Kinder ab zwei Jahren, Chöre, in denen behinderte Kinder integriert sind, und Orchester in Jugendstrafanstalten. Eine Entwicklung, die Hoffnung macht in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung in sozial schwachen Verhältnissen leben und 30 Prozent unter 15 Jahre alt sind.

Text: Maria Stodtmeier